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Euer Podcast rund ums Rollenspiel und Nerdtum

Das Ritual

Autorin: Caroline Weber, April 2020

Altersempfehlung: 14+ Jahre

Lektorin: Elke Staron (... danke Mama!)

Inhalt: körperliche Gewalt, Sucht, Tod

Lesezeit: ca. 10 Minuten

Die Nacht ist fast vorbei, sie ist froh, gleich bei ihm anzukommen und ihren Liebsten in den Arm schließen zu können. Doch was sie erwarten wird, soll ihr das Blut in ihren toten Adern gefrieren lassen. Sie tritt wie gewohnt durch die Eingangstür und verspürt im ersten Augenblick einen Anflug von Panik, als sie sein Blut riecht. Wirklich ungewöhnlich ist das nicht. Die letzten Tage hat er jeden Abend sein Ritual vollzogen, das was ihr von Anfang an nicht behagte. Es ist zu einer Sucht geworden, die ihn kontrolliert. Sie hat es kommen sehen, aber es ist einfach nicht ihre Art sich einzumischen. Er ist erwachsen, mehr noch, er ist über 350 Jahre alt. Er muss und sollte selbst entscheiden, was er tut. Eine Warnung, dass das Ganze langsam viel zu große Ausmaße annimmt, konnte sie sich dennoch in den letzten Tagen nicht verkneifen. Er reagierte wie immer mit viel Verständnis für ihre Sorgen aber auch mit seiner gewohnten Arroganz, immer alles im Griff zu haben. Dass das nicht der Fall war, sollte sich jeden Augenblick bestätigen. Sie schließt die Tür hinter sich, legt die Schlüssel auf die kleine Kommode und folgt ihrer feinen Nase in sein Arbeitszimmer. Der Anblick hätte sich kaum schrecklicher anfühlen können. Sie ist so sehr erschüttert, dass sie sich einen Laut des Entsetzens nicht verkneifen kann. Ihre schlimmsten Befürchtungen sind eingetreten. Sofort schießt ihr der Gedanke in den Kopf, wie das erste Mal war, als sie von seinem Ritual erfuhr.

Es war kurz nachdem sie sich näher gekommen waren. Er war und ist unglaublich mächtig, alles oder auch jeden in seiner Umgebung konnte er kontrollieren. Seine Magie und die Pfade, die er dafür nutzte, hatten jedoch einige unerwartete Nebenwirkungen gezeigt. 

Die beiden haben in ihrer Endlosigkeit des Seins ein Band geknüpft, wie es unvergleichlich und unvorstellbar für einen normalen Menschen ist. Sie tauschten ihr unsterbliches Blut aus und vermischten, was sie am Leben hielt. Diese Verbindung ist unglaublich intim und so kam es, dass sie gegenseitig jederzeit ihre Nähe und auch Ferne zueinander spüren konnten. Seine Pfade bedienen sich der Hingabe und wenn es Ereignisse gibt, die ihn besonders erregen, so spürt sie es. Sie spürt es mehr als er selbst, sofern er es durch seine Konzentrationsfähigkeit nicht genug unterbinden kann. Anfänglich hatte sie keine Ahnung, was er tat, um ihr ein solches Gefühl zu bescheren, bis sie ihn eines Nachts darauf ansprach. Er hatte gezögert. Er zögerte nie. Doch dank ihrer Unnachgiebigkeit und wahrscheinlich auch dank seiner aufrichtigen Liebe zu ihr, gestand er ihr sein Geheimnis. Das Ritual. Er bot ihr an, ihm beim nächsten Mal beizuwohnen und das sollte nicht lange auf sich warten lassen. Bereits am Ende der nächsten Nacht hatte er vor, das Ritual zu vollziehen. Sie würde die erste Zeugin sein, die ihm bei der Durchführung beobachten durfte. Er erklärte jeden einzelnen Schritt, solange er genügend Kraft dafür aufbringen konnte. Sie hatte ja keine Ahnung, was sie erwarten würde. Es begann mit dem Zeichnen eines Kreidekreises auf dem Dielenboden. An der Innenseite des Kreises schrieb er verschiedene Runen, deren Bedeutung er ihr Stück für Stück erläuterte. Es war ein Bannkreis, der alles einschloss, was ihn betritt und nur von dem betreten werden konnte, der ihn schuf. Sie war neugierig. Als er innerhalb des Kreises Platz nahm, trat sie heran und wollte ihre Hand zu ihm strecken. Eine unsichtbare Barriere hielt sie davon ab. Er schien in einer Art Kugel eingeschlossen zu sein. Dies war der erste Moment, in dem ihr dabei unbehaglich wurde. Warum schließt er sich ein oder was will er ausschließen? Sie sollte nicht lange auf eine Antwort warten. Das Ritual macht ihn verwundbar und angreifbar während der Durchführung. So dient der Bannkreis seiner eigenen Sicherheit. Diese Aussage weckte in ihr Nervosität. Sie setzte sich aufgeregt wieder auf das Sofa, um ihren Liebsten aufmerksam zu beobachten. Ihr Schwert, das sie zuvor neben sich abgelegt hatte, gibt ihr jederzeit ein Sicherheitsgefühl, weshalb sie es ergriff und auf ihrem Schoß ablegte. Nun konnte sie die Anspannung nicht weiter verbergen und so merkte auch er, dass sie das Unbehagen überkam. Er versicherte ihr, dass er alles, was er jetzt tun würde, schon unzählige Male tat und dass er genau wisse, wie weit er gehen könne. Diese Worte waren nicht genug, um sie zu beruhigen und so tat er, was er häufig aber nicht oft genug tat. Er benutzte seinen Pfad, mit dem er sie beruhigen konnte. Er erfüllte ihren unsterblichen Geist mit dem Gefühl wahrer Zuneigung, Liebe und Geborgenheit. Das war es, was die beiden miteinander teilten, Sicherheit und das Gefühl zusammen zu gehören. Er hatte es mal wieder geschafft. Sie war ruhig und konnte nun dem Ritual entspannt folgen. Er trat wieder aus dem Kreis und legte sich eine Schale, ein kleines Säckchen und ein Rasiermesser bereit. In dem Säckchen sei die Asche eines anderen Unsterblichen und ein paar Kräuter. Wie genau er daran gekommen war, wollte er nicht mit ihr teilen. Vielleicht war es besser so. Über manche Geheimnisse war sie ganz froh, wenn sie sie nicht erfuhr, vor allem dann, wenn es seine moralisch fragwürdigen Taten betraf. Sie war sich sicher, dass er kein schlechtes Wesen sei und sie war davon überzeugt, dass er solche Taten mit ihr an seiner Seite nicht wiederholen würde. Nachdem er alles vorbereitet hatte, entledigte er sich vollständig seiner Kleidung. Sie hat ihn natürlich schon vorher nackt gesehen. So ist das eben, wenn man sein Dasein mit einem Liebsten teilt. Sein Körper war leichenfahl und trotz seiner agilen Figur, konnte man keinen Funken Leben an seinem Leib erblicken. Wie eine Wachsfigur ohne Puls und ohne Temperatur stand er im warmen Licht seines Arbeitszimmers. Einzig seine Narben zeugten vom Dasein und Leben, das ihn durch seine Unsterblichkeit geleitete. Seine Arme und Oberschenkel waren übersät von Narben einst langer und tiefer Schnitte durch sein Fleisch. Woher diese Entstellungen stammten, hat sie bis zu diesem Zeitpunkt nie erfragt und doch sollte sie gleich Zeuge ihrer Herkunft werden. Auf diese Weise verlieh seine Nacktheit dieser Situation einen bizarren Beigeschmack.

Er betrat wieder den Kreis und verweilte im Schneidersitz für viele Minuten mit geschlossenen Augen, ohne Atem und in tiefer Konzentration. Bis er plötzlich die Brust hob und einen Atemzug tätigte. Einen solchen Moment erlebte sie bei ihm noch nie zuvor. Sein Herz fing an zu schlagen. Gebannt und erfüllt von Neugier verfolgte sie sein Ritual. Er öffnete die Augen und kniete sich aufrecht hin, während er ruhig und tief weiter atmete. Er stellte die Schale direkt vor sich. Dann nahm er das Rasiermesser in die Hand und legte die Klinge direkt an der Oberschenkelarterie an. Er schloss erneut die Augen, holte tief Luft und fing unter offensichtlichen Schmerzen an, die Arterie neben seinen Lenden so weit zu öffnen, dass Blut herauslief und in die Schale tropfte. Es war eine Menge Blut, die er so aus seinem Körper ließ. Sie konnte spüren und sehen, wie er schwächer wurde. Seine Atmung erhöhte sich und wurde immer flacher, bis er endlich das Messer zu Seite legte und mit seiner letzten Kraft die Arterie abdrückte, um die Blutung zu stoppen. Ihre Anspannung war zurück und am liebsten wäre sie zu ihm geeilt, aber der Bannkreis würde das nicht zulassen. So blieb ihr nichts weiter übrig, als dem grausamen Spektakel weiter nur als Zuschauer beizuwohnen. Nach einigen Augenblicken schien es so, als hätte er es wirklich unter Kontrolle. Immer noch kniend ließ er sich nach unten sinken und setzte sich auf seine Unterschenkel. Während er ununterbrochen die Arterie mit seinen Händen abdrückte, schloss er wieder die Augen und sie konnte fühlen, wie er sich konzentrierte und das restliche Blut in seinem Körper zum Stillstand brachte. Ein letzter Atemzug und sein Herz hörte wieder auf zu schlagen. Er nahm die Hände von der Arterie und die Wunde schien verschlossen. Darauf nahm er das Säckchen und streute ein wenig des Inhalts in die Blutschale. Sie konnte nun genau die Asche darin erkennen. Er schwieg die ganze Zeit und die Stille schien sie zu erdrücken. Mittlerweile dauerte es schon fast eine Stunde und es war noch kein Ende in Sicht. Ihre Gefühlswelt schwankte zwischen Sorge und Neugier. Das war eigentlich viel zu viel für sie, doch konnte sie ihren Blick nicht abwenden. Er nahm die Schale, schloss erneut seine Augen und verharrte viele Augenblicke starr in dieser Position, bis er letztendlich die Schale erhob und das gesamte Blut trank. Da war er, der Moment ihrer Erregung, seiner Erregung, der Moment der Nebenwirkung. Jetzt spürte sie, wie ihr Herz anfing zu pulsieren, wie sich das Blut in ihrem Körper ausdehnt und ihr gesamtes Gewebe zu beleben scheint. Es war ein Gefühl des Lebens, mehr als nur reine Existenz. Es fühlte sich nach Sterblichkeit an. Nun schloss sie selbst ihre Augen und genoss das Gefühl, solange es andauerte. Es war unglaublich und langsam konnte sie verstehen, warum er das tat. Gestärkt und voller Kraft erhob er sich, trat aus dem Kreis und das Ritual war beendet. Er lächelte sie an und versuchte ihr Gewissheit zu geben, dass es ihm gut gehen würde. Endlich war es vorbei, endlich war er aus diesem schrecklichen Kreis heraus gekommen. Sie ging sofort auf ihn zu, um ihn in ihre Arme schließen zu können. Das Schwert fiel unbeachtet auf den Boden und sie umarmten sich innig. Da war es wieder, das Gefühl der Geborgenheit, die Zusammengehörigkeit und sie war sich sicher, dass das hier alles genau richtig sei.

Ihr Schrei verstummt in der Leere des Hauses und das Einzige, was übrig bleibt, ist das Geräusch ihres Schwertes, das auf den Boden fällt, als sie ihn da liegen sieht. Normalerweise führte er das Ritual nur durch, um sich zu stärken oder in besonders anstrengenden und stressigen Phasen. Doch in letzter Zeit war es fast täglich, dass sie ihn während des Rituals vorfand. Heute nicht, heute wurde das Ritual unterbrochen. Er liegt nach vorn übergekippt mit dem Gesicht zur Seite gedreht auf dem Boden, das Rasiermesser immer noch in der Hand, in einer Lache seines Blutes. Der Bannkreis ist nicht durchbrochen und er ist eingeschlossen. Sie kann nicht zu ihm, sie kann ihm nicht helfen. Es ist Panik und Entsetzen, was sie verspürt. 

Er hatte in letzter Zeit Probleme, das Ritual richtig vollziehen zu können. Seine Haut war derartig stark vernarbt, dass er es nicht mehr schaffte, seine Arterien gezielt genug zu öffnen. Heute Nacht hat er eine neue Möglichkeit gefunden. Einen Weg, der es ihm ermöglichte das Ritual um jeden Preis durchzuziehen. Er hat seine Halsarterie geöffnet. Er ist zu weit gegangen. Der Preis, den er zahlte, den sie zahlt, ist zu hoch. Er hatte es nie unter Kontrolle. 

Diese Erkenntnis lässt sie erstarren und sie beginnt zu weinen. Ihr Entsetzen weicht plötzlich einer tiefen Wut. Sie ist wütend auf sich, dass sie ihn nie davon abgehalten hat und sie ist wütend auf ihn, weil er sie belogen hat. Mit einem lauten Schluchzen greift sie in Panik und Wut nach ihrem Schwert. Sie beginnt wild auf den Bannkreis einzuschlagen. Immer wieder schlägt sie ihre Klinge gegen die unsichtbare Barriere. Ihre verzweifelten Schreie durchdringen ungehört die Nacht, bis sie letztendlich so sehr auf den Bannkreis einsticht, dass der Griff ihres Schwertes nachgibt und sich ihre Hände ungebremst den Weg zur Barriere bahnen. Die mittlerweile stumpfe Klinge schneidet sich dabei zuerst an ihren Händen entlang und später durch das Fleisch ihres Leibes. Sie spürt den Schmerz nicht und sieht nur, wie ihr Blut an der Barriere entlang auf den Boden fließt. Sie bricht zusammen und legt jede Hoffnung ab, ihn irgendwie befreien zu können. 

Sie könnte die Wunden schließen, sich heilen, weiterleben. Doch sie tut es nicht. Ihre Tränen aus Blut landen stumm auf dem Dielenboden und es bleibt ihr verwehrt, ihren Liebsten ein letztes Mal in die Arme zu schließen. Aus seinem Hals rinnt der letzte Rest seiner Essenz, die nun die Barriere passiert um sich mit ihren Tränen stumm zu vereinen.

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