Die Begegnung
Autorin: Caroline Weber, Juli 2020
Altersempfehlung: 16+ Jahre
Lektorin: Elke Staron (... danke Mama!)
Inhalte: geistige Krankheit, Alpträume, Horror, erotische Szenen, Tod
Lesezeit: ca. 15 Minuten
Sie war schon immer eher ruhig, ein wenig zurückhaltend und oft diejenige, die nichts dazu sagte. Es ist nicht ihre Art, sich zu profilieren oder einzumischen. Es sind die Angelegenheiten der Anderen, nicht ihre eigenen. Dennoch plagt sie eine Sehnsucht, ein Verlangen, das sie nicht in Worte zu fassen mag, etwas ganz tief in ihr verborgenes drängt sich unwillkürlich nach vorn. Ist es die Sehnsucht danach geliebt zu werden, jemanden bei sich zu haben, der einem Geborgenheit und Zuneigung schenkt? Sehnt sie sich nach jemanden, der ihre wahre Natur, ihre Schweigsamkeit, ihre stille Teilhabe akzeptiert und wertschätzt? Zumindest ist das die Aussage, die ihr einst ihre Mutter gab, ein gut gemeinter Rat, sich endlich an einen Mann zu binden und möglichst bald Enkelkinder zu liefern. Sie hat es sogar versucht. Eine Arbeitskollegin stellte ihr einige Männer vor und arrangierte Dates im Kino, Theater, Restaurant und eines sogar im Freibad. ,,Du musst nur zeigen, wie gut du aussiehst. Wenn er dich im Bikini kennenlernt, wird er kaum widerstehen können.‘‘ Ihr war durchaus bewusst, dass sie schön und gut gebaut war. Doch war für sie selbst sehr schnell klar, dass es nicht die Sehnsucht nach einer Beziehung ist, die in ihr brodelt. Nach ein paar romantischen Treffen mit dem ein oder anderen Mann, war schnell die Luft raus und ihre ruhige Art schien den meisten wohl zu langweilig für eine längere Sache. Es war ihr recht, allein kam sie bis jetzt ganz gut klar und in der heutigen Zeit ist es auch kaum ein Problem mit 28 Jahren noch Single zu sein. Nur ihre Mutter befürchtete, ohne Enkel zu bleiben. Doch würde ihr noch genug Zeit bleiben, sie hat es nicht eilig und Angst davor, einsam zu sterben, hatte sie keine. Überhaupt verspürte sie so gut wie nie Angst.
Einmal als Kind sah sie eine alte Frau, die versuchte eine Katze im Vorgarten anzulocken, indem sie laut miaute. Alle anderen hätten die alte Frau wohl einfach für senil oder ein wenig eigenartig gehalten. Aber ihr bescherte es Unbehagen. Diese alte Frau hatte etwas Beunruhigendes an sich. Ein kratziges Miauen klang aus ihrer Kehle und die knochigen krummen Finger spielten währenddessen am Saum des langen Wollkleides. Die gelockten grauen Haare und ihre faltige blasse Haut verliehen der Frau eine geisterhafte Erscheinung und doch war die Alte viel zu sehr bei Sinnen, als dass dieses Miauen eine reine Eigenart hätte sein können. Dieser Moment sollte ihr viele Jahre im Gedächtnis bleiben, nicht nur, weil es der alten Frau gelang dadurch ihre Katze anzulocken, sondern vor allem, weil sie davon überzeugt war, dass... nein! Die Angst kam erst später, als die Katze auftauchte. Das Tier war tiefschwarz und hatte grün leuchtende Augen, das lange Fell war zottelig und voller abgebrochener kleiner Zweige, die Krallen waren ausgefahren und so wirkte das Tier mehr wie eine alptraumhafte Kreatur als ein flauschiger Lebensbegleiter. Danach haben sie begonnen, die Nächte, in denen sie stundenlang wach im Bett lag, in denen sie unablässig das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Von da an schloss sie jede Nacht die Fenster und spannte eine Schnur mit einer Glocke daran zwischen ihr Bett und der Tür. Würde jemand den Knauf drehen, so würde die Glocke läuten und sie hätte Zeit, sich zu verstecken. Viele Male träumte sie von den grellen grünen Augen der Katze, die sie durch die Dunkelheit betrachteten. Sie träumte vom krächzenden Miauen der alten Frau und von den Krallen des Tieres, die messerscharf und bedrohlich aus den Enden der Zehen ragten. Jedoch läutete die Glocke nie auf. Sie wurde älter und die Träume ließen nach, mittlerweile hat sie sogar ihre Scheu vor Katzen abgelegt, wenngleich sie ihre Gegenwart unbewusst wohl doch meidet.
Heute ist sie eine Angestellte einer großen Marketingfirma und designt Websites für Startups. Die Arbeit gefällt ihr, sie muss selten mit den Kunden in Kontakt treten und bekommt höchstens telefonisch Anweisungen über den jeweiligen Keymanager aus der Kundenbetreuung. Jeden Wochentag verfolgt sie im Prinzip die selbe Routine: Aufstehen, Duschen, Schminken, Anziehen, Kaffee trinken, am Friedhof vorbei zum Zeitungskiosk und von dort aus direkt zur Arbeit. Auf dem Weg zurück nach Hause besorgt sie sich meist in der Pizzeria neben dem Kiosk ihr Abendbrot und betrachtet nachdenklich die Grabstein-Rohlinge des Steinmetzes, der seinen Betrieb direkt neben dem Friedhofseingang hat. Nicht, dass sie darüber nachdenken würde zu sterben, aber dennoch betrachtet sie die Rohlinge mit der Frage, welchen wohl ihre Mutter für sie auswählen würde und was wohl darauf stünde. Zweifellos ihr Name und ihre Geburts- sowie Sterbedaten. Aber wäre auch ein Spruch darauf? "Für immer in unseren Gedanken" oder "In ewiger Erinnerung". Würde überhaupt jemand zur Beerdigung erscheinen? Freunde hat sie nicht gerade viele und die meisten, eigentlich alle, die sie kennt, wären wohl eher als Bekannte zu bezeichnen. Zu Hause angekommen nimmt sie ihr Abendessen zu sich, liest noch ein wenig in der Zeitung oder schaut sich eine Sitcom im Fernsehen an, bevor sie sich schlafen legt.
Auch heute klingelt wieder früh ihr Wecker. Sie geht duschen, schminkt sich, trinkt ihren Kaffee und macht sich auf den Weg zum Kiosk. Es ist noch dunkel auf den Straßen, die Luft ist kühl und die ersten gefärbten Blätter der Bäume fallen zu Boden. Es ist ein wunderschöner Herbstmorgen. Die Natur trifft die letzten Vorbereitungen für ihre Winterruhe und zeigt sich dabei von ihrer farbenprächtigsten Seite. Der Herbst ist ihre liebste Jahreszeit, auch wenn ihre Mutter immer die Meinung vertrat, dass alles sterben würde und sich die Natur während der folgenden Monate in farblose und triste Kälte hüllt. Dennoch oder gerade deswegen genießt sie diese Jahreszeit besonders intensiv. Als sie am Steinmetz vorbei läuft, fällt ihr auf, dass das Friedhofstor nur angelehnt und nicht wie sonst verschlossen ist. Beim Blick durch das Tor sieht sie von weiten eine dunkle Gestalt im Morgendunst, die eine Schubkarre vor sich her schiebt. Das ist sicherlich der Gärtner, der heute wohl ein wenig früher dran ist. Die Gestalt bleibt plötzlich stehen und scheint sich zu ihr zu wenden. Die Schubkarre sinkt nach unten, als hätte man sie einfach losgelassen. Schlagartig bewegt sich die Gestalt mit einer scheinbar übermenschlichen Geschwindigkeit direkt auf sie zu. Instinktiv weicht sie ein paar Schritte zurück. Vor lauter Aufregung übersieht sie die hohe Bordsteinkante und fällt rücklings unsanft zu Boden, während die Gestalt am Friedhofstor ankommt und sich als riesiger Schatten über sie zu beugen scheint. Intuitiv schließt sie ihre Augen und hebt schützend den rechten Arm nach oben.
,,Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.‘‘ eine ruhige und tiefe Stimme erklingt direkt vor ihr. Ein wenig verwundert öffnet sie ihre Augen und senkt den Arm. Zuerst erblickt sie eine Hand, die sich ihr helfend entgegenstreckt. Normalerweise würde sie sich nie aufhelfen lassen und lieber selbstständig aufstehen, aber aus irgendeinem Grund ergreift sie die Hand und spürt einen kräftigen aber vorsichtigen Zug, der sie augenblicklich wieder auf die Beine hebt. ,,Geht es Ihnen gut?‘‘ Vor ihr steht ein etwa 30 Jahre alter, recht gut aussehender Mann in einem schwarzen Anzug. Sie nickt ihm zu und bedeutet damit, sich nicht weiter verletzt zu haben. Er lächelt sie freundlich an. ,,Ich muss dann mal wieder an die Arbeit. Einen schönen Tag noch!‘‘, noch bevor sie eine Chance hat zu antworten, ist der Mann schon wieder im Nebel verschwunden. Das war merkwürdig. Wie konnte er sich so schnell bewegen? Verunsichert begibt sie sich wieder auf den Weg zur Arbeit. Also wie ein Gärtner war er nicht gekleidet. Und warum hat er sich so schnell zu ihr bewegt? Was war sein Ziel? Er ist einfach wieder gegangen, als hätte er sie nur erschrecken wollen. Sie schüttelt leicht ihr Haupt, um diese vielen Fragen aus ihrem Kopf zu bekommen. Es wird schon alles seinen Grund und damit eine Erklärung haben. Schließlich ist ihr ja nichts passiert und der Mann schien ja auch zum Glück keine fragwürdigen Absichten zu hegen.
Auf Arbeit angekommen erwartet sie wieder die triste Routine des Alltags. Ein paar Änderungen am Webshop einer mittelständischen Modeboutique, ein Logo-Entwurf für eine Fahrschule und eine Farbzusammenstellung für das Homepage-Design einer Floristin. Kurz vor Feierabend kommt eine Kollegin zu ihr. ,,Heute ist Donnerstag und Single-Night, wir wollen nachher ein wenig feiern gehen, ein paar Cocktails trinken und den Junggesellen-Markt erkunden.‘‘ Dabei lächelt sie verstohlen. ,,Hast du Lust mitzukommen?‘‘ Sie zögert mit ihrer Antwort. Nein, eigentlich wäre sie lieber zu Hause, aber andererseits ist sie jeden Abend zu Hause. Ein wenig Gesellschaft würde ihr nicht schaden und wahrscheinlich auch dafür sorgen, dass ihre sozialen Kompetenzen nicht endgültig versiegen. Sie nickt und verabredet sich zu zwanzig Uhr vor der Cocktailbar. Auf dem Weg nach Hause entscheidet sie sich für eine deftige Pizza als Abendbrot im Imbiss. Sie erhofft sich dadurch eine solide Grundlage für einen langen Cocktailabend zu schaffen. Mit der heißen Pizza in der Hand läuft sie wieder am Friedhof vorbei. Es ist später Nachmittag und viele Besucher sind im Friedhofspark unterwegs, obwohl der Himmel wolkenverhangen ist. Neugierig wirft sie einen Blick zum Bestattungshaus und entdeckt tatsächlich wieder den Mann von heute morgen, der bei einer Gruppe schwarz gekleideter Menschen steht, die offensichtlich einer Trauergemeinschaft angehören. Obwohl er ruhig und ernst dasteht, wirkt er irgendwie deplatziert, als hätte er keinerlei Bezug zur Situation. Sie verlangsamt ihren Schritt und versucht den Mann genauer zu betrachten, bis er plötzlich in ihre Richtung aufblickt. Sie bleibt stehen, irgendetwas in seinen dunklen Augen fesselt sie. Er wirkt keineswegs verunsichert und geht direkt auf sie zu, bis er am Friedhofstor steht. Sie beobachtet seinen eleganten Gang, bis er vor ihr stoppt. ,,Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie haben sich heute morgen nicht zu sehr erschrocken.‘‘ Er lächelt ihr zu. Normalerweise würde sie nie einfach so mit einem fremden reden und schon gar nicht an einer solchen Örtlichkeit, sie kann sich nicht erklären, warum sie überhaupt hier stehen geblieben ist oder warum sie auf einmal anfängt mit ihm zu reden. ,,Es geht mir gut. Sie haben mich tatsächlich ein wenig erschreckt, aber das ist schon fast vergessen.‘‘ Das war eine Lüge. In Wahrheit hat sie den ganzen Tag ununterbrochen darüber nachgedacht. Er lockert ein wenig seine stramme Haltung. ,,Dann bin ich beruhigt. Einen angenehmen Abend wünsche ich Ihnen noch und lassen Sie es sich schmecken.‘‘ Er deutet mit seinem Blick noch kurz auf die Pizza und sie errötet. Warum wird sie rot? Es ist ihr doch nicht etwa peinlich, dass sie Pizza isst? Sie lacht etwas verunsichert auf, „ja, dankeschön.“ Ihre Beine tragen sie bereits weiter, doch ihr Blick folgt dem Mann noch einige Augenblicke hinterher, bis er wieder in der Menge der trauernden Menschen verschwunden ist. Hätte sie ihm ihr Beileid aussprechen sollen? Oder ist er doch nur ein Mitarbeiter? Ihre Gedanken kreisen noch eine Weile um den Mann herum, während sie bereits zuhause angekommen ist und sich vor dem Fernseher platziert, um die mittlerweile lauwarme Pizza zu essen.
Es ist kurz vor sieben und wenn sie pünktlich sein möchte, sollte sie sich langsam beeilen. Sie geht ins Badezimmer, um sich noch einmal kurz zu duschen und das Make-up abendtauglich aufzufrischen. Nach der Dusche fühlt sich der Fliesenboden immer besonders kalt an. Ihre nackten Füße suchen schnell den Weg über die eisigen Kacheln hin zum Vorleger am Waschbecken. Sie zieht sich eilig an und föhnt ihr Haar trocken. Über ihre Frisur macht sie sich nie viele Gedanken, meist trägt sie ihre Haare zu einem einfachen Dutt gebunden. Das geht schnell und so stören die Haare nicht beim Arbeiten. Auch für heute Abend entscheidet sie sich wieder für ihre Alltagsfrisur. Ihre Mutter würde das mit einem 'Du machst viel zu wenig aus dir!' kommentieren. Der Gedanke lässt sie unbewusst die Augen rollen. Sie legt sich ihre Schminksachen zurecht und trägt nach und nach alles auf. Zum Schluss kommt der Eyeliner in einer feinen dünnen Linie auf das obere Augenlid. Sie zieht die Linie einmal und ein weiteres Mal auf beiden Augen nach. Es ist irgendwie viel zu wenig. Sie wiederholt das Auftragen erneut und immer wieder. Da muss noch mehr Schwarz hin, es ist einfach noch nicht genug. Die Augenbrauen stören, die Lücken zwischen den feinen Härchen wollen sich einfach nicht färben. Sie ist erleichtert, als sie endlich an den Augenbrauen vorbei ist und trägt nun das Schwarz Linie für Linie auf ihre Stirn auf. Jetzt geht es schneller, die Stirn ist gerade und lässt den Eyeliner einfach darüber gleiten wie einen Pinsel über Papier. Bald wird es genug Schwarz sein. Sie ist völlig auf ihr Werk konzentriert, als plötzlich ihr Handy klingelt; eine Nachricht ihrer Kollegin. 'Wo bleibst du denn!?' Sie starrt verwundert auf ihr Telefon und schreibt schnell zurück. 'Ich bin auf dem Weg.' Dann wirft sie einen Blick auf die Uhrzeit und schreckt kurz auf, als sie feststellt, dass es bereits halb neun ist. Ihr ist gar nicht aufgefallen, wie die Zeit so schnell vergehen konnte. Sie wendet sich wieder ihrem Spiegelbild zu und erschreckt bis ins Mark. Angefangen von ihrem Lid hat sie ihre Augen und fast die gesamte Stirn mit dem Eyeliner eingefärbt. Sie starrt sich selbst durch den Spiegel einige Augenblicke völlig schockiert an. Wie konnte das passieren? Ich habe mich doch nur geschminkt? Sie blickt auf ihre Hände und sieht ihre schwarz verschmierten Finger, sogar das Display ihres Telefons ist mit der Farbe beschmiert, im Waschbecken liegen unzählige Späne vom Nachspitzen des Stiftes, der sich in ihrer Hand gerade als winziger Stummel enttarnt. Im nächsten Moment steigt Panik in ihr auf. Hektisch greift sie nach einem Waschlappen und holt mit viel Seife und Wasser das Schwarz wieder von ihrem Gesicht runter. Sie blickt erneut in den Spiegel und dann auf die Uhr, dreiviertel neun. Wenn sie sich jetzt nicht losmacht, wird es zu spät werden. Sie entscheidet sich dagegen, das Make-up neu aufzutragen, schnappt sich ihre Tasche und eilt los zur Cocktailbar. Hoffentlich erntet sie keinen herablassenden Spruch ihrer Kolleginnen.
Auf dem Weg zur Bar kommt sie wieder am Friedhof vorbei. Es ist still und friedlich. Die Nacht ist sternenklar und hüllt die Stadt in kalte Luft. Sie genießt den Weg und spielt tatsächlich kurz mit dem Gedanken einfach weiter durch die Nacht zu laufen und den Abend mit den Kolleginnen ausfallen zu lassen. Aber sie muss dringend wieder etwas für ihre sozialen Fähigkeiten tun. 'Sonst endest du noch als alte und einsame Jungfer!' Also geht sie letztendlich doch zur Single-Night. Der Abend verläuft wie erwartet. Ihre Kolleginnen stellen ihr einen Mann nach dem anderen vor und versuchen sie in Smalltalk zu verwickeln. Einer der Männer scheint tatsächlich ernsthaftes Interesse an ihr zu zeigen, doch sie entschuldigt sich gegen Mitternacht bei ihm und ihren mittlerweile stark angetrunken Kolleginnen. Sie verlässt die Bar, um nach Hause zu gehen. Die Luft draußen ist eisig und sie kann ihren Atem sehen. Als sie am Friedhof vorbei läuft, sieht sie, wie sich eine kleine Eisschicht an den Grashalmen auf der Wiese gebildet hat. Der Friedhof ist nicht beleuchtet und segnet die Nacht mit einer angenehmen Stille. Sie genießt es und verlangsamt ihren Schritt, um die Ruhe so lange wie möglich auszukosten.
Als sie zu Hause wieder vor ihrem Waschbecken steht und die Spuren der schwarzen Farbe am Waschlappen sieht, fragt sie sich eindringlich, wie es dazu kommen konnte. Es bleibt ihr absolut schleierhaft, was da in ihrem Kopf vorging, es ist nicht mal so, dass sie sich nicht erinnern könnte. Es ist als sei ihr Bewusstsein für diesen Moment völlig ausgeschaltet gewesen, als hätte jemand fremdes das Steuer in die Hand genommen und sie würde einfach wohlwollend zusehen. Sie versucht die Gedanken abzuschütteln und geht schlafen. Hoffentlich ist das morgen und mit ein bisschen Schlaf vergessen. Doch wird die Nacht alles andere als ruhig verlaufen. Sie wacht immer wieder auf und blickt nahezu minütlich auf ihre Uhr. Normalerweise leidet sie nie unter Schlafstörungen. Vielleicht brütet sie was aus? Ihr Vorgesetzter war die letzte Woche wegen einer Grippe krankgeschrieben. Womöglich hat sie sich angesteckt. Gegen vier Uhr entscheidet sie sich dazu doch aufzustehen. Sie setzt sich im Dunkeln mit einem frisch aufgebrühten Tee auf ihre Fensterbank und sieht aus dem Fenster. Vor dem Haus ist ein kleiner Vorgarten und eine ruhige Seitenstraße, wenn sie sich gut positioniert, kann sie sogar den Friedhof sehen. Verträumt blickt sie nach draußen, als plötzlich Nebel aufzieht. Die Temperaturen müssen wohl noch weiter gefallen sein. Die Sicht trübt sich immer weiter und es scheint, als würde ein schwach orangenes Licht vom Friedhof ausgehen. Neugierig beobachtet sie den Friedhof, aber es ist keine Menschenseele auszumachen. Sie öffnet ihr Fenster und lauscht in die Stille der Nacht hinein. Es ist wahrhaftig totenstill, kein einziges Geräusch scheint durch den Nebel zu dringen. Sie starrt unablässig in Richtung Friedhof, als sie schleichend das Gefühl bekommt, beobachtet zu werden. Langsam stellen sich ihre Nackenhaare auf und die Kälte scheint sich durch ihre Gelenke zu ziehen, als sie urplötzlich eine männliche, tiefe Stimme hinter sich hört. „Verlangen.“ Erschrocken dreht sie sich um und blickt in die Leere ihrer Wohnung. Sie hätte schwören können, dass da jemand hinter ihr stand. Ihr Herz pocht wild in der Brust und ihr Atem füllt das Zimmer mit warmer Luft, die verzweifelt versucht die Kälte der Nacht zu verdrängen. Als sie sich langsam wieder beruhigt, schließt sie das Fenster und schaltet das Licht ein. Das Gefühl, dass sie nicht allein ist, hat sich allerdings noch nicht gelegt. Sie betrachtet aufmerksam das Zimmer, kann aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie beschließt, duschen zu gehen und zu frühstücken. Es ist kurz vor sechs Uhr und für sie eine gute Gelegenheit heute ein wenig früher auf Arbeit zu erscheinen. Auf die eine Überstunde mehr kommt es nicht an.
Auf dem Weg zur Arbeit wirft sie einen sehr aufmerksamen Blick zum Friedhof, doch das Leuchten ist verschwunden und nur die Schwärze der Nacht ist geblieben. Selbst den Nebel kann sie nicht mehr ausmachen. Sie beschleunigt ihren Schritt und will so schnell wie möglich auf Arbeit ankommen. Die Beschäftigung wird sie hoffentlich von den Ereignissen der letzten Nacht ablenken. Insgeheim hofft sie auch darauf, dass der Schlaf sie im Büro nicht einholen wird. Auf Arbeit angekommen setzt sie im Wesentlichen die Arbeitsaufträge des Vortrags fort, bis kurz vor Mittag ihr Telefon klingelt. Als sie den Hörer abnimmt, meldet sich der Keymanager, der ihr detaillierte Informationen zu einem neuen Kunden durchgibt, den er heute akquirieren konnte. Sie hört aufmerksam zu und kitzelt nebenbei mit dem Kuli auf ihrer Unterlage herum. Doch die Linien sind nicht genug, sie fährt immer und immer wieder die Linien nach, bis der Untergrund nicht mehr genügend Platz für alles bietet, sie setzt ihre Arbeit auf einem Block fort, ein Blatt nach dem anderen füllt sie mit Linien, bis auch dieser Untergrund zu Ende geht. Es kommt nicht darauf an, ob die Linien gerade sind, es zählt nur, dass sie keine Linie vergisst und dass man jede sieht. Der Keymanager redet immer noch, also zeichnet sie weiter, der Untergrund ist weich und fettig, sie drückt stärker auf und nimmt sich letztendlich einen Marker, der hier offensichtlich viel besser funktioniert. Linie für Linie zeichnet sie ohne Anfang und Ziel, ohne Sinn und ohne… Plötzlich verabschiedet sich der Keymanager mit der Aussage, dass er sich Montag mit einem konkreten Auftrag bei ihr melden wird. Sie bedankt sich und legt den Hörer auf. Gerade als sie sich den neuen Kunden für Montag vermerken möchte, stellt sie fest, dass ihr gesamter Kalender vollgekritzelt ist, auch ihre Unterlage. Sie hebt den Kopf und sämtliche Oberflächen sind mit Klebezetteln zugepflastert, auf denen sich Kritzeleien befinden. Aber das sind nicht irgendwelche sinnlos zusammengefügten Linien. Mit ein wenig Abstand erkennt sie, dass es sich hierbei um so eine Art Runen handeln muss. In ihrer Ausbildung haben sie mal über verschiedene Schriftarten gesprochen und dabei auch Runen und Keilschriften kennengelernt. Das hier sind eindeutig Runen. Ihr ganzer Arbeitsplatz ist damit gepflastert. Schnell reißt sie all die Notizzettel ab und entfernt das oberste Blatt ihrer Schreibunterlage, um alles in den Papierkorb zu stopfen, als sie dabei ihre Arme betrachtet. Auch diese sind mit den Runen übersät. Nicht nur ihr linker, nein, auch ihr rechter Arm ist vollgekritzelt. Sie kann sich nicht einmal daran erinnern, dass sie den Stift in die andere Hand genommen hätte. In ihr steigt Angst und Panik auf. Wieder fängt ihr Herz an zu rasen. Sie zieht sich schnell ihre Strickjacke über, die glücklicherweise über ihrer Stuhllehne hing und eilt ins Badezimmer, das sie sofort von innen verschließt. Voller Panik und in blinder Angst beginnt sie unverzüglich damit, die Tinte von ihren Armen zu waschen. Dabei dringen unwillkürlich einige Tränen durch ihre Augen nach außen. Sie versteht nicht, wie das passieren konnte. Es ist wie gestern Abend, als sie sich das halbe Gesicht schwarz gemalt hat. Was geht hier nur vor sich? Trotz des kräftigen Rubbelns scheint die Tinte nicht von ihrer Haut verschwinden zu wollen. Nach circa zwanzig Minuten gibt sie auf und lehnt sich erschöpft und weinend an die kalte Fliesenwand. Nach und nach sacken ihre Knie ein und sie sinkt nach unten. Was passiert hier nur? Viele Minuten verbringt sie in dieser Haltung auf dem Boden der Angestellten-Toilette, bis sie sich dazu entschließt, ein paar Überstunden abzubummeln. So kann sie nicht weiterarbeiten. Sie verabschiedet sich von ihren Kolleginnen, die ihr ein schönes Wochenende wünschen.
Erleichtert verlässt sie ihren Arbeitsplatz. Auf dem Weg nach Hause stellt sie fest, dass sich dichter Nebel in der Stadt gebildet hat. Als sie am Friedhof vorbei läuft, wirkt dieser nahezu gespenstisch. Eiligen Schrittes geht sie weiter, als unvermittelt eine kleine schwarze Gestalt direkt vor ihr auftaucht. Es ist eine Katze. Sie hat langes, zotteliges Fell, grüne Augen und ausgefahrene Krallen, die über den Asphalt kratzen. Wie erstarrt bleibt sie stehen und lässt das Untier nicht aus den Augen. Ein krächzendes Miauen durchdringt den dichten Nebel. Ihre Knie werden weich und sie kann spüren, wie sich ihre Nackenhaare vor Angst aufrichten. Der Nebel scheint alle Laute der Umgebung zu verschlingen. Einzig dieses furchterregende Geräusch bleibt und bohrt sich durch ihr Mark. Als die Panik überhand nimmt, wendet sie sich blitzschnell um und startet einen Fluchtversuch in die entgegengesetzte Richtung, der sofort durch ein unerwartetes Hindernis gestoppt wird. Sie ist direkt in jemanden reingelaufen, der offensichtlich hinter ihr… stand? Sie entschuldigt sich und merkt in diesem Moment, dass diese Person… dieser Mann sie an ihren Oberarmen festhält. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Die ruhige und tiefe Stimme erkennt sie sofort wieder. Es ist der Mann vom Friedhof. Ihr Herz rast immer noch in blanker Panik und sie hebt langsam ihren Blick, um ihre Vermutung bestätigt zu wissen. Seine dunklen Augen betrachten sie aufmerksam und warten scheinbar geduldig auf eine Antwort. Mit viel Mühe ringt sie sich ein paar Töne ab, „ja, ich habe mich nur erschrocken vor der“, sie dreht sich um, um nach der Katze Ausschau zu halten, doch das Tier ist spurlos verschwunden, „…Katze.“ Sie richtet wieder ihren Blick nervös auf den Mann, der sie nach wie vor festhält. Er lächelt und zu ihrer Erleichterung lockert er seinen Griff, wobei seine Hände an ihren Armen entlang nach unten gleiten. Es fühlt sich wie eine sehr intime und entspannende Berührung an. Sie spürt eine unerwartete Erregung, die er in ihr auslöst. Augenblicklich errötet sie und wendet ihren Blick wieder nach unten, während sie ein wenig zurückweicht. „Ich… ich habe wohl etwas überreagiert“, sie lächelt verlegen. Er legt zwei seiner Finger unter ihr Kinn und hebt sanft ihren Kopf an, sodass sie ihn in seine fast schwarzen Augen blickt. „Sie sehen eher so aus, als hätten Sie sich zu Tode erschrocken.“ Sein Blick haftet sanft an ihren Augen und sie spürt den starken Drang, ihn küssen zu wollen. Ihre Hände liegen immer noch auf seinem Oberkörper vom Zusammenstoß und ihre Lippen nähern sich langsam seinem Gesicht. Er ist etwas größer als sie und gerade, als sie sich auf ihre Zehenspitzen streckt, um seine Lippen erreichen zu können, erkennt sie plötzlich die Absurdität dieser Situation. Sie weicht augenblicklich von ihm zurück. „Verzeihung.“ Ihr Kopf läuft puterrot an und sie wendet ihren Blick schamerfüllt wieder nach unten. „Ich… ich muss los.“ Sie wendet sich um und geht, ohne sich noch einmal umzudrehen, allerdings spürt sie, wie er immer noch da steht und ihr hinterherblickt.
Ihr Herz rast weiterhin in ihrer Brust, sodass ihr schlecht davon wird. So wird sie den Weg nicht nach Hause schaffen, ihre Beine werden immer schwerer und sie spürt, wie ihre Knie weich werden. Sie sucht Halt an einer Mauer, die glücklicherweise so niedrig ist, dass sie sich hinsetzen kann. Langsam schließt sie ihre Augen und versucht sich mit ein paar kontrollierten Atemzügen zu beruhigen. Auf ihrer Zunge und im Rachen spürt sie plötzlich ein unangenehmes kribbeln und ein saurer Geschmack steigt in ihrer Kehle auf, noch bevor ihr bewusst wird, was gerade mit ihr passiert, übergibt sie sich schwallartig auf den Gehweg. Ihre Sicht verengt sich immer weiter zu einem kleinen und immer kleiner werdenden Fenster. Sie bemerkt nicht einmal den Aufprall, als sie von der Mauer rutscht und ohnmächtig unsanft auf dem Boden landet.
Als sie wieder zu sich kommt, ist es furchtbar hell. Sie blickt sich angestrengt um und erkennt, weiße Wände, einen Fernseher an der Wand, einen langen silbernen Ständer mit einem Plastikbeutel und roter Flüssigkeit darin. Sie folgt mit ihrem Blick einem Schlauch, der von dem Beutel direkt in ihren Arm führt. Sie liegt im Krankenhaus. Benommen aber bei klarem Verstand sucht sie nach dem Rufknopf für die Krankenschwester, den sie unverzüglich betätigt. Einige Augenblicke später kommt eine Krankenschwester ins Zimmer, die sofort anfängt den Puls und Blutdruck bei ihr zu messen, während sie ihr unsanft mit einer Lampe direkt in die Augen leuchtet. „Wie fühlen Sie sich? Ist Ihnen schlecht? Haben Sie Schmerzen?“ Sie ist gerade völlig überfordert, die ganzen Fragen zu beantworten, versucht es dennoch, „es geht.“ Die Krankenschwester scheint stur ihrer Routine zu folgen und geht wieder ohne weiteren Kommentar aus dem Zimmer. Es sind noch kurz ihre Schritte im Flur zu hören und dann verstummen wieder alle Geräusche. Sie wendet ihren Kopf zum Fenster, es ist Nacht. „Wie lange bin ich denn schon hier?“ Mit viel Mühe richtet sie sich auf und entdeckt am Fußende ihres Bettes ein Krankenblatt, das sie sich unverzüglich greift und durchliest. Offensichtlich wurde bei ihr ein immenser Blutmangel festgestellt und sie liegt seit, „zwei Tagen!?“, schon hier. Ihr Mund fühlt sich schrecklich trocken an und sie nimmt sich ein Glas mit Wasser, das neben ihrem Bett steht. Sie leert es mit einem Zug und schließt dabei zufrieden die Augen. „Das tat gut.“ Als sie langsam ihre Lider wieder öffnet erblickt sie plötzlich eine große Gestalt an ihrem Bett. Sie erschreckt kurz und erkennt dann den Mann vom Friedhof wieder. Er steht einfach nur lächelnd da. Sie hat ihn nicht reinkommen hören. „Wie geht es Ihnen?“ Seine tiefe Stimme fühlt sich wie Samt auf ihrem Rücken an und sie spürt, wie sie Gänsehaut bekommt. Was ist nur los mit ihr? „Ich… ich denke gut.“ Er setzt sich zufrieden lächelnd auf die Seite ihres Bettes und legt seine Hand an ihre Wange. Sie schmiegt sich unwillkürlich in seine Berührung und merkt, wie erneut diese Erregung in ihr aufsteigt. Dann beugt er sich zu ihr nach vorn und im ersten Moment, glaubt sie, er wolle sie küssen. Doch stattdessen zieht er vorsichtig die Infusion aus ihrem Arm. Er verschließt fachgerecht die Flexüle und nimmt den Beutel von dem silbernen Haken. „Das brauchen Sie nicht mehr.“ Sie ist nach wie vor irritiert, aber vielleicht weiß er ja, was passiert ist, „wissen Sie, wie ich hierher gekommen bin?“ Er blickt ihr wieder tief in die Augen und schmunzelt. „Ich habe es beim letzten Mal wohl etwas übertrieben. Dafür möchte ich mich entschuldigen.“ Dabei legt er seine Hand auf ihre und streichelt sanft ihren Handrücken mit seinem Daumen. Diese Berührung fühlt sich unglaublich gut an und ihr Herz fängt wieder an zu rasen. Sie lacht etwas nervös auf. „Wie meinen Sie das denn? Ich…ich kann mich nicht mehr richtig erinnern.“ Er lächelt sie immer noch an und es fällt ihr schwer seinen Gesichtsausdruck richtig zu lesen. Sie muss die ganze Zeit darüber nachdenken, wie es sich wohl anfühlt, ihn zu küssen, seine Lippen zu berühren, seine Zunge an ihrer eigenen zu spüren. Er fängt wieder an zu reden, „sie ging viel zu früh von uns.“ Seine Stimme scheint unter ihren Gedanken völlig im Hintergrund zu liegen. „Was meinen Sie?“, sie blickt ihn irritiert an. Er antwortet völlig trocken, „Ihr Grabstein. Das ist, was Ihre Mutter darauf eingravieren lässt.“ Sie blickt ihn entsetzt an und nackte Panik steigt in ihr auf. „Was…“, ihr bleiben die Worte im Hals stecken. Er rutscht auf dem Bett näher an ihr Gesicht heran und sie spürt, wie die Panik scheinbar ihre Erregung befeuert. Sie möchte weinen, aber keine einzige Träne schafft den Weg aus ihren Augen. Sie starrt ihn verzweifelt an und weiß, dass sie es, was auch immer jetzt passieren wird, nicht aufhalten kann. Das Einzige, was ihr bleibt, ist zu flehen, „bitte“, in ihre Worte mischt sich ein verzweifeltes Wimmern, „nein.“ Sein Kopf nähert sich ihrem. Ihr Herz springt ihr fast aus der Brust, Übelkeit steigt in ihr auf, sie zittert am ganzen Leib. Er legt seine Hand wieder auf ihre Wange. Es fühlt sich so gut an und die Berührung scheint sie auf magische Weise zu beruhigen. „Schhhh….“, seine Stimme klingt sanft und friedlich. Dann spürt sie, wie endlich seine Lippen die ihren berühren. Es ist befreiend und unglaublich beruhigend. Er küsst sie sanft und innig, als würde er ihre Lippen erkunden und gleichzeitig überall berühren wollen. Sie erwidert den Kuss mit all ihrer Leidenschaft. Das ist unglaublich. Seine Lippen wandern küssend über die Wange zu ihrem Ohr. Ein kleines lustvolles Stöhnen verlässt ungewollt ihren Mund. Dann küsst er sie am Hals. Ihr Herz fängt wieder an zu Rasen und ihr wird kurze Zeit später übel…wahrscheinlich vor Aufregung. Dann verengt sich plötzlich wieder ihr Sichtfeld. Sie schließt ihre Augen und erwartet das Unaufhaltsame, während sie spüren kann, wie der letzte Funken Lebens aus ihrem Körper gleitet.
Plötzlich nimmt sie den Klang eines Glöckchens wahr, das die Ruhe des Zimmers aufhebt. Sie reißt erschrocken ihre Augen auf. Es ist Nacht und sie liegt in ihrem Bett, an dessen Pfosten die Schnur mit der Klingel befestigt ist. Ihr ganzer kindlicher Körper zittert vor Angst und sie greift instinktiv nach ihrem Teddy, um irgendwie Schutz zu suchen. Aus einem unerklärlichen Grund kann sie sich kaum bewegen und scheint in ihrem Bett erstarrt zu sein. Das Läuten des Glöckchen verstummt, als sich die Schnur lockert und die Tür sich öffnet. Ihre großen unschuldigen Augen blicken unablässig zur Tür, in der sich eine dunkle Gestalt befindet. Das einzige Licht, was lediglich schwach den Holzboden erhellt, wird vom Mond in silbernen Strahlen in das Zimmer entsendet. Mit dem Verstummen der Glocke ist eine beruhigende Stille eingekehrt und die dunkle Gestalt bewegt sich auf ihr Bett zu. Es ist der Mann, der Mann aus ihrem Traum. Sofort verbirgt sie ängstlich ihr Gesicht hinter ihrem Teddy und hält ihn wie einen schützenden Schild vor sich. Nur ihre kindlichen Augen blicken neugierig über das Kuscheltier hinweg. Der Mann setzt sich zu ihr auf die Bettkante und sie kann sein Gesicht erkennen. Er ist es wirklich, diese dunklen Augen sind unverkennbar. „Wie alt bist du jetzt?“ Seine tiefe Stimme wirkt beruhigend und fast väterlich. Leise flüsternd antwortet sie ihm, „acht.“ Der Mann lächelt und streicht ihr sanft mit seiner Hand über den Kopf, als wollte er sie in den Schlaf wiegen. „Eines Tages wirst du die Katze wiedersehen und dann werde ich mich dir offenbaren. Bis dahin bleibst du unwissend.“ Ohne es aufhalten zu können, schließt sie ihre Augen und schläft wieder ein.
Es fühlt sich immer kälter an und in ihren Gliedmaßen verspürt sie tausende kleine Stiche. Ihr Körper zuckt unwillkürlich und Übelkeit steigt in ihr auf, als ihr plötzlich warm wird. Da ist er, der Moment, mit dem alles endet. Seine Offenbarung. Ihr Bewusstsein entgleitet langsam ihrem Körper und sie kann sich selbst in dem Krankenzimmer sehen. Er hält sie immer noch fest und sieht in ihr lebloses Gesicht. Dann gibt er ihr einen letzten Kuss auf die Stirn und sie merkt, wie es Zeit wird zu gehen. Ein unerklärlicher Sog zieht sie immer weiter nach oben und das letzte, was sie von dieser Welt sieht, sind seine dunklen Augen, die nach oben direkt zu ihr blicken. Seine tiefe Stimme erklingt ein letztes Mal in ihren Ohren. „Verzeih mir."